Sonntag, 9. September 2018

Schwäche

»Die Schwäche sitzt mitten im Körper und fault und breitet sich aus. Wie ein Geschwür. Ich hab sie gespürt, seit ich fünfzehn war. Deshalb war ich auch immer so gereizt. Weißt du, was es heißt, etwas in sich zu haben, das mit tödlicher Sicherheit vor sich hin fault, mehr noch, was es heißt, sich dessen ständig bewusst zu sein?«

Ich saß in meine Decke gewickelt und schwieg.

»Wahrscheinlich nicht«, fuhr Ratte fort. »Diese Seite ist dir nicht eigen. Wie auch immer, das jedenfalls ist Schwäche. Mit der Schwäche verhält es sich wie mit einer Erbkrankheit. Du weißt, dass du sie hast, aber du kannst dich selbst nicht davon heilen. Sie vergeht auch nicht einfach irgendwie. Sie wird nur immer schlimmer.«

»Schwäche in Bezug auf was?«

»In Bezug auf alles. Moralische Schwäche, Willensschwäche, Existenzschwäche an sich.«

Ich lachte. Ein richtiges Lachen, diesmal gelang es mir. »Wenn du es so ausdrückst, gibt es keinen Menschen, der nicht schwach wäre.«

»Lass doch die Gemeinplätze. Ich sagte es schon. Natürlich haben alle Menschen ihre Schwächen. Aber echte Schwäche findest du ebenso selten wie echte Stärke. Du kennst die Schwäche nicht, die einen pausenlos in den Abgrund zieht, du weißt nicht einmal, dass sie existiert. Nicht alles und jedes lässt sich mit Gemeinplätzen erklären!«

(Haruki Murakami - "Wilde Schafsjagd")

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen